Christophe Cherix
Ein Katalog als offenes Instrument
Sowohl die Retrospektive wie der Catalogue raisonné sind im Rahmen eines
künstlerischen Œuvres absehbare und erwartete Momente. Doch wenn die
Stunde gekommen ist und es gilt, Bilanz zu ziehen und die im Lauf eines Künstlerlebens
gesponnenen Fäden zu verknüpfen, machen sich neben der freudigen Erwartung
gewöhnlich auch Angstgefühle bemerkbar. Im Vergleich zu früheren
Generationen waren die Künstlerinnen und Künstler der Nachkriegsgeneration
diesbezüglich härteren Prüfungen ausgesetzt, und zwar sowohl
aufgrund der Neuorientierung der Kunstwissenschaft und des Kunstmarkts als auch
durch den empfindlich veränderten Status des Kunstobjektes selbst. Ein
Lebenswerk lässt sich heute nicht mehr so ohne weiteres zerlegen und aufteilen
– in Perioden und Gattungen, in Haupt- und Nebenwerke –, wie das
in der Vergangenheit der Fall war. Entsprechend sind auch die Retrospektive
(das Aufzeigen der Entwicklung eines Œuvres von den Anfängen bis zu
seinem, oft nur vorläufigen, Abschluss in Form einer Ausstellung) und der
Catalogue raisonné (das möglichst vollständige Erfassen sämtlicher
Werke eines Künstlers) Modelle, die zwar in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts aussergewöhnlich erfolgreich waren, aber nichtsdestoweniger
häufig in Frage gestellt wurden. So gibt es unzählige Wortspiele und
Variationen zum Ausdruck Retrospektive: Um nur zwei Beispiele aus jüngerer
Zeit aufzuführen, seien hier die Respektive von Martin Kippenberger (Mamco,
Genf, 19. Juni – 14. September 1997) und die Heterospektive zu Ehren von
George Brecht (Museum Ludwig, Köln, 17. September 2005 – 8. Januar
2006) genannt. Sie zeigen, dass es für Künstler wie Institutionen
Mittel und Wege gibt, eine historisch bewährte Form aufzunehmen, ohne sich
ihr vollkommen unterzuordnen. Mit dem Catalogue raisonné, der Summe der
Elemente, die ein Œuvre ausmachen, wurde ähnlich verfahren: von Marcel
Duchamps genialer Boîte en valise (Schachtel im Koffer, Künstleredition,
Paris 1941), welche fein säuberlich geordnete Reproduktionen seiner wichtigsten
Werke enthält, bis zu Robert Rymans Kassette im Gewand eines Catalogue
raisonné seiner Druckgrafiken, in der sich statt eines Katalogs Teilreproduktionen
von Originalabzügen seiner Radierungen befinden. Die Künstler haben
die eigentliche Funktion des Catalogue raisonné oft verfremdet, um die
Unterscheidung zwischen Original und Reproduktion fragwürdig erscheinen
zu lassen. Der Katalog wurde dadurch selbst zum Kunstwerk und das geht manchmal
so weit, dass er Elemente umfasst, die selbst wiederum als eigenständige
Kunstobjekte gelten können. So steht der Werkkatalog heute nicht mehr für
den Erfolg und die Krönung der künstlerischen Tätigkeit, sondern
erweist sich zugleich als Wiederaufnahme und Aktualisierung derselben.
Die 1960er Jahre haben diese Fragen ins Zentrum der künstlerischen Aktualität
gerückt. Das Aufkommen der sogenannten Konzeptkunst und einer gewissen
Entmaterialisierung der Kunst haben das ihre zu einer Neudefinition der Beziehung
zwischen Werk und Betrachter beigetragen. So ist der Katalog oft im eigentlichen
Sinne des Wortes zum Raum geworden und beschränkte sich nicht länger
auf das Kommentieren oder Illustrieren einer Ausstellung, sondern griff das
Ereignishafte, das auch ihn selbst auszeichnete, bereitwillig auf. So hat beispielsweise
Seth Siegelaub in New York seine Galeristentätigkeit 1968, nach einem Unterbruch
von rund achtzehn Monaten, wieder aufgenommen, diesmal jedoch, ohne tatsächlich
über einen Raum zu verfügen. Er begann nun die Arbeiten, die er präsentieren
wollte, regelmässig als «Ausstellungen auf Katalogbasis» zu
publizieren. Die mitwirkenden Künstler wurden gebeten, einer vorgegebenen
Form folgend im Raum des Buches selbst zu arbeiten. Eine der berühmtesten
Editionen, die so entstanden, ist unter dem Namen Xerox Book bekannt geworden
und versammelte im Dezember 1968 sechs Beiträge von je fünfundzwanzig
Seiten (von Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth, Sol LeWitt,
Robert Morris und Lawrence Weiner); technisch waren alle Beiträge zunächst
mittels Fotokopie realisiert und dann im Offsetdruck in die definitive Buchform
übertragen worden. Der Beitrag von Kosuth führt das Buch als solches
ad absurdum, indem er die Stadien seiner Entstehung Schritt für Schritt
im Detail darlegt. Auf der ersten Seite steht zu lesen: «PHOTOGRAPH OF
XEROX MACHINE USED» (Fotografie des verwendeten Fotokopierapparates);
auf der folgenden: «XEROX MACHINE’S SPECIFICATIONS» (Angaben
zum Fotokopierapparat), und ganz am Schluss: «PHOTOGRAPH OF WHOLE BOOK»
(Fotografie des fertigen Buches). Beim Durchblättern von Kosuths Beitrag
wohnt der Leser also dem Entstehungsprozess des Werkes bei, das er gerade in
Händen hält, ein Prozess, den der Künstler sorgfältig in
seine einzelnen semantischen Akte zerlegt hat. Dadurch wird das Xerox Book als
Ganzes auf einen sprachlichen Akt reduziert. In diesen Jahren sind das Objekt
und seine Definition – in der plastischen Kunst das Werk und sein Titel
– häufig austauschbar, oder zumindest besteht ein besonders fruchtbares
dialektisches Verhältnis zwischen beiden. Mit der Veröffentlichung
seiner beiden «Zwillingsbücher», CLEARSKY und LAAIR stellte
Bruce Nauman das taxonomische Verhältnis zwischen Buchtitel und Inhalt
auf den Kopf, das Edward Ruscha vor ihm eingeführt hatte. Während
Ruschas Band TWENTYSIX GASOLINE STATIONS (Edition des Künstlers, Los Angeles
1963) tatsächlich sechsundzwanzig Ansichten von Tankstellen präsentiert,
erwecken CLEARSKY und LAAIR lediglich den Anschein, Ansichten eines blauen Himmels
beziehungsweise des (Smog verhangenen) Himmels über Los Angeles zu zeigen.
Wie Tim Guest richtig hervorgehoben hat, «zeigt Naumans CLEARSKY eine
Reihe leerer Seiten in unterschiedlich leuchtenden Blautönen. Die Seiten
sehen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten aufgenommenen Fotografien eines
wolkenlosen Himmels zum Verwechseln ähnlich. Es sind jedoch keine Fotografien,
sondern mit blauer Druckfarbe bedeckte Seiten. Dadurch, dass Nauman das Stadium
der Fotografie aus dem Reproduktionsprozess tilgt, fällt die Idee des ‹Vertrauens
in die Realität› der fotografischen Darstellung in sich zusammen.
Der Erfolg des Buches beruht auf seinem Titel: Die blosse Andeutung, dass das
Papier einen wolkenlosen Himmel (CLEARSKY) darstellt, genügt, um der leeren
Seite jenen Anschein von Tiefe zu verleihen, den wir mit unserer räumlichen
Vorstellung des Himmels verbinden.» Da die auf der Offsetplatte verteilte
Druckfarbe sich an die Stelle der fotografischen Wiedergabe setzt, erzeugt das
Buch Bilder, die vorher nicht existiert haben, sondern in Wirklichkeit auf die
Umstände seines Produktionsprozesses zurückzuführen sind.
Das Buch von Hanspeter Hofmann, das Sie nun in Händen halten, reiht sich
in diese, hier viel zu knapp umrissene Tradition ein; es ist ein Buch, das gleichzeitig
Katalog eines bestehenden Werkes ist und ein Instrument zur Produktion neuer
Bilder, neuer «Originale», die auf der Offsetplatte selbst erzeugt
wurden. Nicht von ungefähr ist der Titel dieses Catalogue raisonné
der neuen Art, Bonheur automatique, auch eine Anspielung auf den Maschinenmenschen,
den Homme machine, und das Werk des französischen Philosophen und Chirurgen
Julien Offray de la Mettrie (1709–1751), eines vehementen Verfechters
des Determinismus und Empirismus. Tatsächlich war es vom homme-machine
nur noch ein Schritt zum livre-machine, und der ist hiermit getan.
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Christophe Cherix
Open-ended Catalogue
The retrospective and the catalogue raisonné alike are long-awaited moments
in an artist’s œuvre. And yet, when the time comes to review, to
tie off the threads woven over time by an artistic practice, there is generally
a feeling of apprehension mixed in with anticipation. The generation of post-war
artists was even more obliged to follow these customs than were their predecessors,
due mainly to the new demands of history and the art market and to a noticeable
change in artwork status. An œuvre could no longer be divided or split
up—into periods or genres, minor or major works—in the same way
as before. The retrospective—illustrating through an exhibition the development
of an œuvre from its beginnings to its conclusion (often just temporary)—as
well as the catalogue raisonné—setting out as exhaustively as possible
an artist’s body of work—are categories which, notwithstanding their
extraordinary success in the second half of the 20th century, have still been
the subject of much debate. Puns on the word retrospective, for example, are
far too many to count: to give just a couple of recent examples, the Respektive
of Martin Kippenberger (Mamco, Geneva, 19th June-14th September 1997) and the
Heterospektive devoted to George Brecht (Ludwig Museum, Cologne, 17th September
2005 – 8th January 2006). These show the various ways in which artists
and institutions continue to make use of an established historiographic form
without conforming to it completely. The catalogue raisonné, the sum
of the constituents making up an artist’s work, has been the subject of
similar treatment: from Marcel Duchamp’s inspired Box in a Valise [Boîte-en-valise],
in which reproductions of essential elements of his œuvre are carefully
arranged (published by the artist, Paris, 1941), to the boxed set produced by
Robert Ryman by way of a catalogue raisonné of his prints, providing
instead of reproductions, fragmentary prints from the original plates of his
engravings (PRINTS, 1969-1993, Parasol Press, New York, 1993). Artists then
have often subverted the primary use of the catalogue raisonné to destabilize
the distinction between original and reproduction. The catalogue becomes an
œuvre in itself, sometimes even containing elements which are themselves
works of art. The book no longer signifies the accomplishment and consecration
of an artistic practice, but is indicative of both its relaunching and its actualization.
The 1960s brought these questions to the forefront of contemporary art. The
emergence of what came to be known as conceptual art and of a certain dematerialization
of art helped to redefine the relationship between œuvre and spectator.
The catalogue often became a space in the literal sense, no longer limited to
commentary or to illustrating an exhibition, but containing events of its own.
For instance, Seth Siegelaub resumed after an eighteen-month break his gallery
activities in New York in 1968, but this time without an actual space. From
this moment he began to regularly publish works presented as “exhibitions
on catalogues”. The artist or artists were asked to work within the space
of a book, in a pre-established form. One of his most famous editions, known
as the “Xerox Book” brought together in December 1968 six contributions
of twenty-five pages each (by Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph
Kosuth, Sol LeWitt, Robert Morris and Lawrence Weiner), all initially produced
by photocopying and then reproduced in offset in the final publication. Kosuth’s
work offers a mise en abyme detailing the book’s constituent stages step-by-step:
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