back

Weltprogramm
Ingo Niermann

Warum ist etwas und nicht nichts? Informationstheoretiker argumentieren, dass ein absolutes Nichts komplexer zu beschreiben sei als ein absolut Alles. Als Beispiel wird gern Jorge Luis Borges’ Geschichte Die Bibliothek von Babel angeführt: Eine Ansammlung aller möglichen Bücher habe den Informationswert null. Beim Nichts hingegen müsse man genau definieren, was für ein Nichts überhaupt gemeint sei. Nicht nur ein ewiges Vakuum, sondern sogar die Abwesenheit von Raum und Zeit? Sogar die Abwesenheit einer Logik, die dieses Nichts doch überhaupt erst definiere?

Eine Ansammlung aller möglichen Bücher ist, sofern die Zahl der verfügbaren Zeichen wie auch die der möglichen Seiten endlich ist, zwar immens, aber endlich. Das ist beim Alles-Möglichen nicht der Fall. Wie aber kann Unendlichkeit nicht nur mengentheoretisch formuliert werden, sondern tatsächlich sein?

Indem Alles-Mögliche nicht immer schon ist, sondern immer noch wird. So bleibt das, was gerade jetzt ist, endlich. Unendlich ist und bleibt nur das, was noch nicht ist. Nichts und Alles bewegen sich auf dem Zeitstrahl aufeinander zu und durchmengen sich. Das Alles aus einer fernen, nie erreichbaren Zukunft – also das Nichts aus einer ebenso fernen, das heisst nie beginnenden Vergangenheit? Oder warum hat Alles einmal genau so und nicht anders begonnen? Bei der Frage nach dem Anfang des Werdens wird auch dieses Modell paradox.

Es sei denn, die Welt hätte nicht nur einmal, sondern auf alle möglichen Weisen gleichzeitig begonnen. Es gäbe also nicht nur ein Weltgeschehen, das sich durch ihre Bibliothek liest. Sondern so unendlich viele Weltgeschehen wie Bücher?

Informationstheoretiker sind bestrebt, die Welt ähnlich einem Computerprogramm nur anhand diskreter Zustände zu beschreiben: Ja und nein bzw. eins und null. Am Anfang Alles-Möglichen könnte eine binäre Opposition stehen – die sich im folgenden Weltgeschehen in immer weitere Welten verzweigt. Ein quantenmechanischer Kollaps der Wellenfunktion signalisiert nicht die Entscheidung zwischen zwei möglichen Zuständen, sondern die Aufspaltung einer Welt in zwei Welten, in denen je das eine der Fall ist. Die Zahl der existierenden Welten wäre unermesslich grösser als die Zahl der Elementarteilchen in unserer Welt, aber endlich.

Das Problem an dieser Theorie sind nur wir. Wir, das heisst die bewusst wahrnehmenden Etwasse. Unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere Gefühle und sogar unsere Gedanken über Logik und Mathematik – unsere Qualia – lassen keine diskreten Zustände erkennen. Unser Bewusstsein pixelt nicht.

Ist eine solche Ignoranz gegenüber dem, was zwar nicht unmittelbar vor, aber unmittelbar hinter unseren Augen passiert, eine weitere weiss-männliche Irrfahrt? Tatsächlich sind es bisher nur weiße, männliche Informationstheoretiker, die die Welt als ein sich selbst realisierendes Computerprogramm interpretieren. Sogar die, die ihre Theorien kritisch diskutieren, sind in der Regel weiße Männer. Der Grossteil der Menschheit macht sich nicht die Mühe, sie auch nur zu verstehen. Und bemüht auf die Frage nach dem Ursprung von allem, was der Fall ist, wann und wo auch immer, die eine oder andere prä-technologische Metapher. Demut gegenüber unserem Nicht-Wissen sieht anders aus.

Im antiken griechischen Theater war es an den Satyrn, sich über die Menschen und ihre dummen Weisheiten lustig zu machen. Dauererregte, dauernd Zoten reissende Waldgeister, halb Mensch, halb Tier. Auch wieder männlich und in allem, was an ihnen menschlich ist, auch wieder weiß. Kaum schaut ein Satyr in den Spiegel, erscheint ihm Nietzsches Übermensch. Und von da ist es nicht weit zu Marvels Superhelden, die sexuelle Potenz für Kraftmeierei und einen derben, im Chor die Dinge beim Namen nennenden Humor für eine die Welt im Ein-Mann-Kommando aufräumende Lynchjustiz eintauschen.

Im analogen Hier und Jetzt finden Männer nur noch idiotischer, noch lädierter zu sich. Mensch und Tier nicht als mehr, sondern als weniger als die Summe ihrer Teile. Zu verkopft und zu triebgesteuert in einem. Egal wie wenig Platz Männer einnehmen, sie haben ihn geraubt. Auch wenn sie sich selbst kasteien oder vernichten würden, stänke ihre Selbstgerechtigkeit zum Himmel.

Während Frauen und anderen Nicht-Männern die Rolle zukommt, sich humanistisch und post-humanistisch immer weiter zu vervollkommnen, bleibt Männern identitätspolitisch die Grauzone von weder Mensch noch Tier. Hier können sie darüber sinnieren und darauf beharren, dass es sie als Was-auch-immer überhaupt noch gibt. Von hier aus können sie Chat rooms und Blogs vollschreiben, Social Media volltrollen, Post-Its vollkritzeln, Wände vollsprayen und Fussgängerzonen vollgrölen. Solange sie nur biestig und laut genug bleiben, dass man sie nicht noch zu bemitleiden beginnt. Egal wie geschunden sie sind, sie wollen gefährlich bleiben – oder zumindest nerven. Als schlechtes Beispiel widerstrebend beiseite geschoben werden. Und in einem seltenen Moment trotz allem und gerade deswegen unwiderstehlich sein. Denn sie sind etwas und nicht nichts.